Von Jeramie Kim
Als die S-Bahn pünktlich in den Bahnhof einfuhr, schaute ich auf mein Handy – 9:32, genau wie auf der Digitalanzeige versprochen. Drei Wochen nach meinem Austauschprogramm in Bamberg hatte die deutsche Besessenheit von Pünktlichkeit aufgehört, mich zu überraschen. Zu Hause in Oregon, wo wir überhaupt keinen Zugverkehr haben, kam mir diese Zuverlässigkeit fast wie ein Wunder vor. In diesem Moment kristallisierte sich nur einer der vielen tiefgreifenden Unterschiede zwischen den Verkehrssystemen meines Gastlandes und meines Heimatlandes heraus, die ich entdeckte.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bamberg_Bahnhof_Gleise-20180417-RM-164822.jpg Bild von Reinhold Möller
Eine Geschichte von zwei Philosophien
Amerikas Liebe zum Automobil ist legendär – ein kultureller Prüfstein, der in Springsteens „Racing in the Street“ und in Roadmovies wie „Easy Rider“ und „Thelma & Louise“ verewigt wurde. Deutschland hingegen hat eine Beziehung zum öffentlichen Nahverkehr aufgebaut, die in ihrer Zuverlässigkeit und Integration fast familiär wirkt. Diese unterschiedlichen Ansätze spiegeln nicht nur logistische Präferenzen wider, sondern auch tiefere kulturelle Werte und historische Entwicklungen.

Die Zahlen erzählen eine Geschichte
Die statistischen Unterschiede sind frappierend. Der durchschnittliche Amerikaner fährt etwa 13.500 Meilen pro Jahr, während der durchschnittliche Deutsche etwa 7.000 Meilen pro Jahr schafft. In Deutschland kommen auf eine Million Einwohner etwa 180 Eisenbahnwaggons, in den Vereinigten Staaten dagegen nur 10 pro Million. Fast 24 % aller Fahrten in Deutschland werden mit öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurückgelegt, während es in den Vereinigten Staaten nur 8 % sind.
Aber Zahlen sagen nur einen Teil der Geschichte. Die gelebte Erfahrung offenbart Nuancen, die Statistiken nicht erfassen können.

Netzwerke vs. Knotenpunkte: Philosophie der Infrastruktur
Meine Reise nach München zeigte einen grundlegenden Unterschied in der Verkehrsphilosophie. Von Würzburg aus war der Hochgeschwindigkeitszug ICE eindeutig die beste Option, der die Reisenden mit einer Geschwindigkeit von fast 300 km/h zwischen den Städten befördert. Die Verbindungen zwischen Großstädten, mittelgroßen Städten und sogar kleinen Dörfern bilden ein umfassendes Netz und nicht nur einzelne Punkte.
Im Gegensatz dazu konzentriert sich die amerikanische Infrastruktur oft auf die Verbindung großer Knotenpunkte, lässt aber erhebliche Lücken zwischen ihnen. Außerhalb der städtischen Zentren wie New York, Portland oder San Francisco ist das Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln dramatisch geschrumpft. In meiner Heimatstadt in Oregon besteht der öffentliche Nahverkehr aus einigen wenigen Buslinien mit eingeschränkten Öffnungszeiten, und für Fahrten zwischen den Städten ist fast immer ein Auto erforderlich.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Brightline_train_at_Fort_Lauderdale_station.jpg
Anzeichen des Wandels: Amerikas Renaissance der Eisenbahn
Trotz Amerikas Autozentriertheit setzt sich der Wandel langsam durch. Amtrak (die amerikanische Bahngesellschaft für Personenverkehr) hat begonnen, in die Modernisierung wichtiger Korridore zu investieren, insbesondere im Nordosten und an der Westküste. Die geplante Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Portland und Seattle würde die Reisezeit auf unter 90 Minuten verkürzen – perfekt für Reisen, die zu weit sind, um bequem mit dem Auto zu fahren, aber zu kurz, um den Aufwand eines Fluges zu rechtfertigen.
Brightline in Florida gibt derweil einen Vorgeschmack auf das, was möglich ist: Das erste privat betriebene Hochgeschwindigkeitssystem des Landes verbindet jetzt Miami mit Orlando und soll bis Tampa erweitert werden. Diese Züge erreichen Geschwindigkeiten von bis zu 125 mph, was für europäische Verhältnisse bescheiden ist, aber für den amerikanischen Personenverkehr revolutionär.
Diese Entwicklungen zielen genau auf die Art von Mittelstrecken ab, auf denen Hochgeschwindigkeitszüge am sinnvollsten sind – Städtepaare wie San Francisco und Los Angeles, wo ein Flug nur etwas mehr als eine Stunde dauert, aber mehrere zusätzliche Stunden für die An- und Abreise zum und vom Flughafen, die Sicherheitskontrollen und die Einsteigeverfahren erforderlich sind. Die Strecke ist zu weit für eine bequeme Autofahrt, aber zu kurz, um das Fliegen wirklich effizient zu machen.
Ein amerikanischer Projektmanager, mit dem ich sprach, sagte: “Wir erkennen endlich, was Europa schon vor Jahrzehnten erkannt hat – es gibt einen Sweet Spot zwischen 100 und 500 Meilen, wo Züge die effizienteste Option sind.

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Das Recht zu fahren verdienen: Führerschein-Kulturschock
Eines Abends schilderte mir ein deutscher Freund beim Abendessen seinen Weg zum Führerschein. Ich war schockiert, als ich erfuhr, dass er über 2 000 Euro für die obligatorischen professionellen Fahrstunden, die schriftlichen Prüfungen und die Verwaltungsgebühren ausgegeben hatte. Das Verfahren hatte ihn fast sechs Monate gekostet. Der Durschnitt liegt aktuell laut ADAC sogar deutlich über 3000 Euro.
„In Oregon“, sagte ich ihm, “habe ich eine schriftliche Prüfung abgelegt, sechs Monate lang mit meinen Eltern mit einem Lernführerschein geübt und dann eine 30-minütige Fahrprüfung bestanden. Das Ganze hat weniger als 100 Dollar gekostet.”
Er starrte mich ungläubig an. “Das war’s? Kein obligatorisches Nachtfahren? Kein Autobahntraining? Kein Erste-Hilfe-Kurs?”
Die Strenge der deutschen Fahrausbildung spiegelt einen grundlegend anderen Ansatz in Bezug auf die Fahrberechtigung wider. In Deutschland wird das Führen eines Fahrzeugs als eine ernste Verantwortung betrachtet, die eine gründliche Ausbildung erfordert. Die intensive Ausbildung bringt Fahrer hervor, die nicht nur die Grundfunktionen, sondern auch die Physik des Fahrens, Notfallverfahren und komplexe Verkehrssituationen verstehen.
Dieser Unterschied erstreckt sich auch auf die Prüfungen selbst. Die deutsche theoretische Prüfung besteht aus 30 Fragen aus einem Pool von über 1.000 möglichen Fragen, die alles von technischen Aspekten der Fahrzeuge bis hin zu Umweltvorschriften abdecken. Die praktische Prüfung dauert in der Regel 45 Minuten und umfasst das Fahren in der Stadt, auf der Autobahn und spezielle Fahrmanöver. Im Gegensatz dazu können viele amerikanische Fahrprüfungen in weniger als 30 Minuten absolviert werden und konzentrieren sich in erster Linie auf die grundlegenden Fahrzeugfunktionen und Verkehrsregeln.

Öffentlicher Nahverkehr: Ein öffentliches Gut vs. ein letztes Mittel
Der vielleicht auffälligste Unterschied ist, wie öffentliche Verkehrsmittel wahrgenommen werden. In Deutschland habe ich Menschen aus allen Gesellschaftsschichten gesehen, die Züge und Busse als Hauptverkehrsmittel nutzen. Der öffentliche Nahverkehr wird nicht als letzter Ausweg stigmatisiert, sondern als praktische, effiziente Option für alle angesehen.
In den meisten amerikanischen Städten leidet der öffentliche Nahverkehr unter chronischer Unterfinanzierung, was zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung führt: Immer weniger Menschen nutzen die unzureichenden Dienste, was zu einer Kürzung der Mittel führt, wodurch sich die Qualität der Dienste weiter verschlechtert.

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Voneinander lernen
Während sich mein Austauschprogramm dem Ende zuneigt, habe ich begonnen zu erkennen, wie jedes System von der Übernahme von Elementen des anderen profitieren könnte. Deutschlands ausgedehntes öffentliches Verkehrsnetz und die Fahrradinfrastruktur bieten ein Modell für die Verringerung der Autoabhängigkeit. Amerikas unternehmerische Herangehensweise an Verkehrsinnovationen – zu sehen an der Zunahme von Mitfahrdiensten und Experimenten mit autonomen Fahrzeugen – zeigt den Wert von Flexibilität und Anpassung.
Es ist klar, dass es beim Verkehr nicht nur darum geht, von A nach B zu kommen. Er prägt Gemeinschaften, beeinflusst wirtschaftliche Möglichkeiten, wirkt sich auf die Umwelt aus und spiegelt kulturelle Werte wider.
Ich kann den Artikel sehr gut verstehen, ich war 2 mal in den USA und die Straßen dort sind einfach nur verrückt. Bitte mehr davon!
sauschlecht!
Ich finde es interessant und informativ, danke.
So wie deine Artikel – auch ja, dafür müsstest du erst einmal schreiben lernen!
Wow, gut gemacht.